Über alle Kulturen hinweg gibt es die gesellschaftliche Norm, sich für Gefälligkeiten, Geschenke oder andere wohlwollende Gesten zu revanchieren. In der Soziologie wird dieses Prinzip des menschlichen Handelns als „Reziprozität“ bezeichnet. Was Reziprozität genau bedeutet, wie verbreitet es in unserem täglichen Handeln ist und wie du das Prinzip der Gegenseitigkeit für deinen Online-Shop nutzen kannst, erfährst du in diesem Beitrag.
Definition: Was ist Reziprozität?
Reziprozität bezeichnet eine Verhaltensweise, bei der Menschen nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ handeln. Der Begriff stammt aus der Psychologie und beschreibt das Phänomen, dass sich viele Menschen zur Gegenseitigkeit verpflichtet fühlen. Nach dem Motto „Eine Hand wäscht die andere“ streben Menschen nach einem ausgeglichenen Umgang miteinander. Die Reziprozität wird gern auch Gegenseitigkeitsprinzip genannt.
Ist jemand freundlich zu uns, erwidern wir diese Freundlichkeit. Wir stehen ungern in der Schuld von anderen und neigen dazu, für einen Gefallen auch einen Gefallen zurückzugeben. Gleichzeitig haben wir auch ein feines Gespür dafür, ob unser positives Verhalten nur einseitig ist und wir eventuell ausgenutzt werden. Etwas zurückzugeben und eine Ausgeglichenheit herzustellen, motiviert uns zu vielen „freiwilligen“ Handlungen.
Psychologen unterscheiden bei der Reziprozität zwischen zwei Formen: Direkte Reziprozität und generalisierte Reziprozität. Bei der direkten Reziprozität erwidern wir einen Gefallen mit einer zeitlich nah naheliegenden Gegenleistung. Die generalisierte Reziprozität umfasst eine größere zeitliche Distanz, zum Beispiel, wenn Kinder ihre pflegebedürftigen Eltern betreuen, da diese sie in den ersten Lebensjahren aufgezogen hatten.
Warum Menschen Gegenseitigkeiten erwidern
Die Reziprozität tritt sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich auf. Bei nahezu allen Kulturen werden Gefallen und Geschenke erwidert, auf eine Leistung wollen wir etwas erwidern und bringen eine Gegenleistung.
Psychologen und Sozialwissenschaftler erklären die Reziprozität mit dem unangenehmen Gefühl, bei jemand in der Schuld zu stehen. Anthropologen sehen darin sogar die Grundlage für ein soziales Miteinander. Eine mehrjährige Studie kam zu dem Ergebnis, dass Reziprozität nicht nur stark in unserem Verhalten verankert ist, sondern wir dies auch von unseren Mitmenschen einfordern. Man beobachtete, dass auf ein abweichendes Verhalten oder eine fehlende Erwiderung von Gefallen mit Ächtung und teilweise sogar Bestrafung reagiert wurde.
Das Weihnachtskarten-Experiment
Zum Thema Reziprozität gibt es sehr viele Studien und Versuche. Ein spannendes Experiment haben sich die US-Psychologen Philip Kunz und Michael Woolcott in Chicago ausgedacht. Sie stellten sich die Frage, ob fremde Personen wohl auf eine Weihnachtskarte antworten würden.
Sie suchten sich aus dem Telefonbuch über 500 Personen aus, die sie beide nicht kannten und schickten ihnen Weihnachtspost. Das Ergebnis war verblüffend: Die beiden bekamen knapp 120 Antwortkarten, teilweise mehrseitige Briefe mit Fotos von der Familie und den Haustieren. Reziprozität führte dazu, dass viele sich gezwungen sahen, die Weihnachtsgrüße zu erwidern, sogar ohne den Absender zu kennen.
Spendenbereitschaft durch Reziprozität
Im Jahr 2007 verwüstete der Hurrikane Katrina große Teile der Stadt New Orleans. Die US-Regierung war überfordert mit der Bewältigung dieser Krise. Unerwartete Hilfe bekam New Orleans von der niederländischen Bevölkerung, die sich ausgesprochen spendenfreudig zeigte. Der Grund für diese außergewöhnliche Hilfsbereitschaft: Im Jahr 1953 hatte die Niederlande mit den Folgen einer schweren Sturmflut zu kämpfen und bekam damals technische Hilfe von der Stadt New Orleans. 54 Jahre später revanchierten sich die Niederländer dafür.
Die Hare-Krishna-Sekte kam in den 1970er Jahren durch Reziprozität zu enormen Reichtum. Klassische Spendenaufrufe hatten nur wenig Erfolg und so dachte man sich eine einfache wie geniale Strategie aus. In vielen Bahnhöfen und Innenstädten standen Vertreter von Hare Krishna und verschenkten Blumen an Passanten. Wenn diese die kostenlose Blume ablehnten, bekamen sie ein sanftes „Nehmen Sie die Blume ruhig, sie ist unser Geschenk an Sie!“ zu hören.
Wenige Meter weiter standen weitere Sektenmitglieder, die um eine kleine Spende baten. Schnell machte sich das Schuldgefühl bemerkbar und nur wenige Menschen gingen ohne eine Spende weiter.
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Reziprozität kann zur Manipulation führen
Im Jahr 1971 führte der Psychologe Dennis Regan ein Experiment durch. Er lud mehrere Personen zu einer Untersuchung zum Thema Kunstverständnis ein und ließ die Teilnehmer jeweils zusammen mit einer zweiten Person Bilder bewerten. Die zweite Person, bei der es sich in Wahrheit um Regans Assistenten Joe handelte, brachte der einen Hälfte der Versuchsteilnehmer in der Pause eine Flasche Coca-Cola mit. Die andere Hälfte bekam von Joe kein Getränk geschenkt. Während der zweiten Hälfte des Experiments, als die Qualität der Bilder eingeschätzt werden sollte, bat Joe seine Versuchspartner um einen kleinen Gefallen.
Er verkaufte Lose für je 25 Cent, mit denen man ein Auto gewinnen könne, und würde mit 50 Dollar belohnt werden, wenn er besonders viele davon verkaufen würde. Es zeigte sich, dass die Versuchsteilnehmer, die von Joe eine Cola bekommen hatten, mehr als doppelt so viele Lose kauften wie die andere Gruppe.
Drei Eigenschaften der Reziprozität
Das Experiment von Dennis Regan zeigt drei wesentliche Eigenschaften beim Prinzip der Reziprozität sehr deutlich:
- Für Reziprozität ist es nicht nötig, dass wir um einen Gefallen gebeten worden sind, wir erwidern auch bei einer ungefragten Gefälligkeit etwas.
- Sympathie spielt für die Wirkung der Reziprozität keine Rolle. Im Experiment von Regan erwiderten die „Beschenkten“ den Gefallen unabhängig von der Sympathie mit einem Loskauf. Bei der anderen Gruppe war die Bereitschaft zum Kauf von Losen dagegen stark sympathieabhängig.
- Bei der Erwiderung von erhaltenen Gefallen überkompensieren wir oft. Im Jahr 1971 kostete eine Cola nur 10 Cent, während die beschenkten Versuchsteilnehmer im Austausch durchschnittlich 1,75 Dollar für Lose ausgaben. Dies entspricht beachtlichen 1.650 Prozent mehr.
Beispiele für Reziprozität im Alltag
Du bist zu Besuch bei einer Gartenparty bei Freunden. Die Gastgeberin spricht dich an „Mensch, du siehst aber heute toll aus!“ Was wirst du wohl antworten? Wenn dein erster Reflex „Danke, du auch!“ ist, dann handelst du wie die meisten anderen Personen. Selbst bei so zwanglosen Dingen wie einem ehrlich gemeinten Kompliment neigen wir dazu, diesen Gefallen sofort zu erwidern und auch etwas Nettes über unser Gegenüber zu sagen.
Dein bester Freund zieht um. Vor einem Jahr hat er dir tatkräftig bei deinem letzten Umzug geholfen und du bietest ihm selbstverständlich ebenfalls deine Unterstützung beim Möbel schleppen an. Wenn uns jemand unterstützt, lauern wir oft nur drauf, unserer „sozialen Verpflichtung“ nachzukommen und den Gefallen zu erwidern.
Ein weiteres Beispiel gefällig? Du leihst dir die Bohrmaschine deines Nachbarn aus, um dein neues Regal zu montieren. Zwei Wochen später hat er eine kleine Feier zu Hause und fragt dich, ob du ihm deine kleine Musikanlage vorbeibringen kannst. Selbstverständlich machst du ihm auch diesen Gefallen und folgst der „Reziprozitätsregel“.
Auch Geschenke sind ein sehr gutes Beispiel für reziprokes Verhalten. Erhältst du ein Geschenk zum Geburtstag oder Weihnachten, erachtest du es als selbstverständlich, demjenigen ebenfalls etwas zu schenken. In Arbeitsumfeldern kann die Reziprozität sogar manchmal ausarten, wenn alle paar Tage ein paar Euro für den Geburtstag, die Hochzeit oder den Abschied eines Kollegen gesammelt werden. Hier das Gegenseitigkeitsprinzip und die Verpflichtung, für jeden Anlass ein Geschenk zu kaufen, zu durchbrechen, ist gar nicht so leicht.
Reziprozität im E-Commerce: So nutzt du Gegenseitigkeit für mehr Umsatz
Produktproben und kostenlose Artikel
Ein häufiger Fall, wie sich Firmen Reziprozität zunutze machen, sind Aktionsstände in Supermärkten. Bist du schon einmal beim Einkaufen an einem Probier-Stand vorbeigekommen und wurdest gebeten, doch kostenlos und unverbindlich von der köstlichen neuen Marmelade oder dem wunderbaren neuen Käse zu probieren? Und hast dann eine Verpflichtung gespürt, auch etwas zu kaufen?
Das kostenlose Probieren fordert zwar keine direkte Gegenleistung, aber wir fühlen uns dennoch verpflichtet, auch etwas in den Einkaufswagen zu legen.
Auch online kannst du durch Gratisproben oder kostenlose Artikel mit dem Prinzip der Reziprozität mehr Umsätze erzielen. Für digitale Produkte bietet sich eine kostenlose Testversion mit vollem Funktionsumfang an.
Zusätzlich können kleine Geschenke die Kundenzufriedenheit und Loyalität enorm steigern. Ein kleines Päckchen Gummibärchen als kostenfreie Zugabe zur Bestellung sorgt möglicherweise dafür, dass der Kunde erneut kauft. Auch ein Gutschein für die nächste Bestellung motiviert zum Folgekauf.
Kostenloser Content
Eine weitere Möglichkeit, um bei deinen potenziellen Kunden in Vorleistung zu gehen, ist kostenloser, hochwertiger Content wie hilfreiche Blogartikel, Podcasts, Video-Anleitungen oder Tipps und Tricks für den Einsatz des Produktes. Wenn diese Inhalte hochwertig und aufwendig erstellt sind, fühlt sich dein Kunde schuldig und möchte dir etwas zurückgeben.
Content Marketing kann dir also nicht nur helfen, um überhaupt auf dich und deine Produkte aufmerksam zu machen, sondern auch dank Reziprozität für mehr Verkäufe sorgen.
Außergewöhnliche Serviceleistungen
Vor dem Verkauf kann ein überdurchschnittlich guter Service wie etwa eine gute Beratung ein Weg sein, um Kunden zum gewünschten Verhalten (den Kauf) zu motivieren.
Der Online-Musikhändler Thomann bietet zum Beispiel für seine Instrumente neben einer detaillierten Beschreibung Audioaufnahmen für einen Höreindruck an und stellt die Instrumente per Video vor.
Wenn noch Fragen offen bleiben, stehen bei Thomann verschiedene Möglichkeiten für eine individuelle Beratung zur Verfügung.
Egal, für welche Wege der Reziprozität du dich entscheidest: Du baust Vertrauen zum Kunden auf, was insbesondere im Online-Umfeld ein wichtiges Kriterium für einen Kauf ist.
Wie du aus der Falle der Gegenseitigkeit entkommen kannst
Das tief im Menschen verankerte Bedürfnis, etwas zurückzugeben, kann auch ausgenutzt werden. Natürlich werden viele Gefallen ohne einen Hintergedanken getan, aber gelegentlich nutzen Menschen Reziprozität auch aus.
Um der „Reziprozitätsfalle“ zu entgegen, hilft es, dein Verhalten zu beobachten und zu reflektieren. Frage dich, ob du jemandem deine Hilfe aus Nettigkeit anbietest oder aufgrund von Schuldgefühlen. Lädst du eine Person zu deiner Geburtstagsfeier ein, weil du sie dabeihaben willst, oder weil du von ihr auch eingeladen wurdest?
Kleine Gefälligkeiten und Geschenke kannst du mit dem Wissen um Reziprozität annehmen, ohne danach mehr Geld auszugeben, als du geplant hattest.
Fazit
Reziprozität ist in unserer Gesellschaft ein allgegenwärtiges Prinzip und lässt sich beruflich und privat, offline und online sowie in verschiedensten menschlichen Beziehungen beobachten.
Indem du bei deinen Kunden in Vorleistung gehst, kannst dir eine berechtigte Hoffnung auf Gegenseitigkeit machen.
Weitere Effekte aus der Konsumpsychologie sind unter anderem der Zeigarnik-Effekt und der Primacy-Effekt. Hier findest du alle Blogbeiträge zu diesen Themen.
supergute Differenzierung eines normativen und meist unreflektierten Verhaltens. In der Taktfrequenz, in der wir heute reagieren müssen ein call-to-act zum Innehalten. Stopp! Was passiert hier gerade?
Vielen Dank für professionellen Input!
W.
Hallo Wolfgang,
vielen Dank für deinen netten Kommentar! 🙂
Viele Grüße
Chris